Use Case
Bergen von Altlasten: Roboter für maritime Einsätze

Use Case im Überblick
Branche: Gewässerbewirtschaftung
Aufgabe: Bergen von (un-)bekannten Objekten in Gewässern
Methode: Deep-Learning-Methoden, Support Vector Machines, Unsupervised- oder Reinforcement-Learning-Methoden und weitere
Allgemeines
In deutschen Küstengewässern liegen etwa 1,6 Millionen Tonnen Kampfmittel aus den Weltkriegen. Auch nach über 80 Jahren sind die zum Teil toxischen Substanzen noch reaktiv. Dadurch sind zum einen starke Umweltschäden zu befürchten, die sich negativ auf Fischerei und Tourismus auswirken können. Zum anderen kann die Errichtung von Infrastrukturen, wie Häfen, Unterseekabel, Pipelines, Offshore(wind)anlagen etc., blockiert oder erschwert und der Seeverkehr gefährdet werden. Daher müssen diese Kampfmittel detektiert, klassifiziert sowie geborgen und geräumt werden. Aufgrund fehlender Informationen wie auch Ausrüstung und zu wenigen Tauchenden wird es ohne lernende und autonome Robotiksysteme kaum möglich sein, im gebotenen Zeitraum die Kampfmittel zu räumen (z. B. wegen der Korrosion von Minen etc.).
Status quo
Zur Detektion und Klassifizierung von Kampfmitteln werden derzeit bemannte und unbemannte Systeme eingesetzt. Teilweise werden die Messdaten bereits durch robotische Systeme wie nicht kabelgebundene UUV, unbemannte Unterwasserfahrzeuge (englisch: Unmanned Underwater Vehicles), aufgenommen. Je nach Planung der Messkampagne agieren derartige Systeme aufgrund der eingeschränkten Unterwasserkommunikation bereits hochautomatisiert, autonom – ohne Eingreifen eines menschlichen Operateurs. Die Schritte zum Auslesen der gesammelten Messdaten bis hin zur Klassifizierung werden jedoch weitgehend händisch von Kampfmittelfachleuten getätigt. Verdachtspunkte müssen heute durch ROVs (Remote Operated Vehicles) oder durch Tauchende verifiziert werden. Die meisten Verdachtspunkte im heutigen Bergungsprozess sind jedoch Fehldetektionen: beispielsweise Müll, Autoreifen, Kühlschränke etc. Die anschließende Bergung und Entsorgung der Kampfmittel erfolgen bisher ausschließlich manuell.
Zukunftsperspektiven mit KI
Mit lernenden Robotiksystemen können Detektion, Klassifikation und Bergung effizienter und wirtschaftlicher gestaltet werden. Auch die Gefährdung des Menschen würde durch den Einsatz von lernfähigen UUV reduziert. Aufgaben wie die Verifikation von Funden sowie die Bergung von Altlasten könnten künftig von lernfähigen UUV übernommen werden. Die Daten aus den bisher manuellen Verifikationsmissionen können zur Verbesserung der Objekterkennung der UUV genutzt werden und Daten aus der Fernsteuerung können den Autonomiegrad der Missionen erhöhen und die Handhabung der Kampfmittelobjekte verbessern (z. B. das Greifen von Objekten). Die Vision ist, dass die Detektion, Klassifikation und Bergung von Altlasten durch eine Flotte von autonomen Unterwasservehikeln übernommen wird, die bei Unsicherheiten Operateure bzw. menschliche Entscheider hinzuziehen und aus dieser Interaktion wiederum lernen (vgl. Beyerer et al., 2021).
Angestrebt wird dadurch eine effiziente Räumung durch eine vollautomatisierte Räumungsplattform. Dies bedeutet eine stetige Verbesserung der Systeme auf Basis der unterschiedlichen Datentypen und mit zunehmender Erfahrung der Kampfmittelfachleute und Operateure bis hin zum Schritt der eigenständig selbstlernenden Systeme auf Basis der geborgenen Altlasten inklusive eines Feedbackprozesses.
Quellen des Lernens
Lernen von Verhaltensmustern, Prozeduren und Techniken anhand:
- Erfahrungen (d. h. den Systemdaten) der eingesetzten Systeme
- Beobachtung anderer Systeme
- Rückmeldungen aus der Mensch-Maschine-Interaktion (z. B. im Rahmen von Teleoperation oder variabler Autonomie)
Weitere:
- Diverse UUVs bei einzelnen Messfahrten und täglichen Bergungsprozessen
- ROV-Systeme oder Tauchende im Rahmen von Verifikationsmissionen
- Operateure und Kampfmittelfachleute bewerten gesammelte Bilddaten (Datenannotation)
Benötigte Daten
- Interaktionsdaten
- Systemdaten
- Daten aus vorhandenen Sensoren (z. B. SideScan Sonar, Synthetisches Apertur Sonar, MultiBeam Sonar, Magnetik-Sensoren) und neuartigen Sensoren (z. B. Sensoren für Seismik, transiente Elektromagnetik oder nitrose Gase)
- Strömungsdaten
- Synthetisch generierte Daten
- Daten zu Greifposen (z. B. bei ferngesteuertem Greifen von Objekten)
Methoden des Lernens
- Klassische maschinelle Lernalgorithmen (z. B. Support Vector Machines (SVM), Decision Trees) können für die Klassifizierung von Altlasten im Meer eingesetzt werden.
- Aus der Bildverarbeitung sind Techniken wie Convolutional Neural Networks (CNNs) anwendbar, um (Sonar-)Bilder von Unterwasserumgebungen zu analysieren sowie potenzielle Altlasten zu identifizieren und zu klassifizieren.
- Auf diese Daten können Deep-Learning-Methoden angewendet werden, um Muster zu erkennen, die z. B. auf Seeminen hindeuten.
- Multimodale generative KI kann beispielsweise lernen, fehlende oder unvollständige Daten zu ersetzen.
- Mehrere KI-Methoden können kombiniert werden, um so die Leistungsfähigkeit der Objekterkennung zu verbessern.
- In einigen Fällen können Unsupervised- oder Reinforcement-Learning-Methoden eingesetzt werden, um Muster in den Daten zu erkennen, die auf Altlasten hinweisen könnten, ohne dass eine explizite Markierung etwa von Munition in den Trainingsdaten erforderlich ist.
Qualitätssicherung
Zunächst würden die Systeme durch die Bewertung der Kampfmittelfachleute und Operateure optimiert werden. Die Missionsanalyse erfolgt nach einem abgeschlossenen Messzyklus und nach Bergung bzw. optischen Verifizierung/Auswertung von Verdachtspunkten. Erst danach steht die Bergung der Munitionsaltlasten an. Die Qualität der Ergebnisse wird durch den gesamten Bergeprozess nachgehalten. Die Systemverbesserung erfolgt durch anschließendes Training mit direktem Feedback aus der Bergung. Idealerweise ist im späteren Verlauf des Prozesses kein menschlicher Operateur bzw. keine Kampfmittelexpertin und kein Kampfmittelexperte mehr notwendig. Die Qualitätssicherung erfolgt dann durch die Bergungsplattform mit „direkten Feedbackloop“ an die unbemannten Unterwasserfahrzeuge.
Systemvoraussetzungen
Unter Wasser ist die Datenkommunikation, unter anderem aufgrund geringer Bandbreite, nur beschränkt möglich. Missionen sind daher weitgehend kommunikativ abgeschnitten und benötigen einen hohen Automatisierungsgrad. Für das maschinelle Lernen müssen aber Daten aus den Missionen aufgezeichnet und zur Verfügung gestellt werden. Da Daten aber nicht in Echtzeit übertragbar sind und die Rechenkapazität auf UUV begrenzt ist, werden vor allem daten- und rechenintensive Verfahren wie Deep Learning nur von Mission zu Mission realisierbar sein. Neben den Hauptaufgaben müssen UUV über Kapazitäten zur Speicherung von Lerndaten und zur Auswertung von Verdachtspunkten verfügen.
Weitere Voraussetzungen
- Datenkooperation: Unternehmen und Einrichtungen, die Missionen durchführen, sollten gesammelte Daten teilen, sodass genügend Trainingsdaten vorgehalten werden können
und ein umfangreich annotierter Datensatz („Altlastenatlas“) entsteht, der mit jeder Mission präziser wird. - Recht und Regeln: Es fehlt ein rechtlicher Rahmen für die hochautomatisierte Bergung von Altlasten. Speziell zur Operation in Verklappungsgebieten existiert ein hoher Formalismus, der aus Sicherheitsgründen gerechtfertigt ist. Bei einem hohen Automatisierungsgrad stellen sich besondere Fragen zu Sicherheit und Versicherungsrecht, da Teile
der Altlasten noch zündfähig sein können. - Wirtschaftlichkeit: Es ist noch unklar, wie ein tragfähiges Geschäftsmodell für derartige Bergeprozesse gestaltet sein könnte: Soll der Staat eine Delaborationsplattform durch
Einmalzahlung finanzieren und dann betreiben? Oder: Soll die Plattform industriell betrieben werden, etwa durch Bezahlung pro Tonne geräumter Altlasten?
Realisierung und mögliche Hürden
Die Detektionsphase wäre in kurzer Zeit umsetzbar. Entsprechende lernende Systeme müssten mit den teilweise schon vorhandenen Daten entwickelt werden. Ein industrielles System könnte somit innerhalb der nächsten drei Jahre zum Einsatz kommen. Für die hochautomatisierte Delaborationsplattform existieren bereits fertige Konzepte, die in der Industrie erarbeitet wurden. Die größte Hürde ist hier die fehlende Wirtschaftlichkeit aufgrund fehlender (politischer) Rahmenparameter. Mit dem Bau einer solchen Plattform könnte unmittelbar begonnen werden und in etwa drei bis fünf Jahren würde diese Plattform zur Verfügung stehen und weiter optimiert werden.
Sonstiges
Für die Datenakquise und die Plattformkonzeptionierung wurden bereits Fördervorhaben initiiert. Es existiert ein Vorhaben zur „Industriellen Räumung zu Altlasten in Verklappungsgebieten“ (IRAV). Zudem gibt es Projekte zur Realisierung von Forschungsansätzen zur Bergung von Altlasten (CleanSeas). Allerdings fehlt bei diesen Ansätzen noch der Sprung in die Hochautomatisierung, da nach wie vor die konzeptionellen Grundlagen erarbeitet werden.
(Einschätzung I Stand 09/2024)
Entwickelt wurde dieser Use Case mit Expertise aus der Arbeitsgrupppe „Lernfähige Robotiksysteme“ der Plattform Lernende Systeme, insbesondere von Dr. Jeronimo Dzaack (ATLAS ELEKTRONIK GmbH), Prof. Dr. Jürgen Beyerer (Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung), Dr. Sirko Straube (Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz GmbH).
Quellen
Jürgen Beyerer et al. (Hrsg.) (2021): Kompetent im Einsatz – Variable Autonomie Lernender Systeme in lebensfeindlichen Umgebungen. Whitepaper aus der Plattform Lernende Systeme, München.