Wie wir mit KI gemeinsam Europas Datenschätze heben

Ein Expertenbeitrag von Karl-Heinz Streibich, Plattform Lernende Systeme

Künstliche Intelligenz (KI) bestimmt die Wirtschaft in der nächsten Phase der Digitalisierung. Um sich in Zeiten rasanter technologischer Entwicklungen im Wettbewerb zu behaupten, müssen Unternehmen ihre Prozesse und Geschäftsmodelle anpassen. Das Gebot der Stunde lautet, Mehrwert aus Daten zu schöpfen – und zwar gemeinsam mit Partnern.

Karl-Heinz Streibich (© Weedezign)

Mithilfe von KI können Daten, die intelligente Maschinen und smarte Produkte sammeln, sinnvoll verknüpft und analysiert werden. Aus dem gewonnenen Wissen entstehen neue, effizientere Produkte und Dienstleistungen. Doch insbesondere der Mittelstand verfügt selten allein über die notwendigen Daten und Technologien, um datengetriebene Geschäftsmodelle zu realisieren. Eine Mobilitäts-App muss etwa auf Daten des Öffentlichen Personennahverkehrs, Carsharing-Plattformen und Informationen zur Verkehrssituation auf den Straßen zugreifen, um ihrem Nutzer eine intelligente, sich dynamisch anpassende Routenempfehlung zu geben. Die wertvollen Informationen liegen verteilt bei verschiedenen Institutionen in Datensilos. Jeder hat Teile des Puzzles, doch keiner kann es allein zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Dazu ist der Austausch der Daten in Ökosystemen notwendig – der in Europa allerdings engen Restriktionen unterliegt. Andere Wirtschaftsräume sind weniger reguliert. Amerikanische B2C-Plattformen wie Google, Facebook oder Amazon können große Mengen an Daten sammeln und verwerten – auch bei uns in Europa. Sie sind auch deshalb die Gewinner der ersten Phase der Digitalisierung. Dieses Paradoxon müssen wir hinter uns lassen: Dass bei uns vieles verboten und überreguliert ist, während die internationalen digitalen Champions mit unseren Daten Dinge tun, auf die wir wenig Einfluss haben.

Mit einem „Schengenraum für Daten“ hat Europa das Potenzial, als Gewinner aus der nächsten Phase der Digitalisierung hervorzugehen.

Wir müssen aus der jetzigen „Daten-Verklemmtheit“ herauskommen und eine neue Kultur des Teilens und der gemeinsamen Nutzung von Daten ermöglichen. Europäische B2B-Unternehmen haben die Industriedaten und das Knowhow in wichtigen industriellen Branchen. Diese müssen sie kontrolliert zugänglich machen. Akteure in einer Branche oder einem Anwendungsfeld müssen gezielt zusammenarbeiten, um gemeinsame Datenräume aufzubauen. Wie solche Wertschöpfungscluster oder -netzwerke geschaffen werden können, zeigt die bei acatech angesiedelte Plattform Lernende Systeme in einem aktuellen Bericht. Darin stellt sie Praxisbeispiele erfolgreicher KI-Vorreiter aus Deutschland vor, die gemeinsam mit Partnern in Datenökosystemen zusammenarbeiten. Die angebotenen Produkte und Dienstleistungen reichen von intelligenten Ausfallprognosen für Fertigungslinien über datenbasiertes Monitoring in Gewächshäusern bis hin zu KI-gesteuerten Handprothesen.

Diese Pioniere machen es vor. Nun müssen wir den Weg für weitere Unternehmen in Europa ebnen, die gemeinsam und grenzüberschreitend ihre Datenschätze heben wollen. Was wir dazu brauchen, ist eine Art Schengenraum für Daten: einen europaweiten offenen Datenraum, in dem Unternehmen ihre Daten vorwettbewerblich teilen können – bedenkenlos und nach unseren europäischen Rechts- und Wertemaßstäben. Dazu sollte der Datenraum auf einheitlichen europäischen Datenrichtlinien basieren, die sowohl Innovationsfähigkeit fördern als auch private Daten und geistiges Eigentum schützen. Wie beim politischen Vorbild des Schengenraums müssen sich alle, die innerhalb Europas Daten speichern und verarbeiten, an diese Regeln halten.

Die geltenden europäischen Regeln zum Datenschutz sichern einen verantwortungsvollen Umgang mit Daten. Allerdings muss beobachtet werden, ob diese Gesetze datenbasierte Innovationen hemmen könnten. Ebenso sollte das Kartellrecht der Kooperation von Wettbewerbern nicht im Wege stehen, wenn es darum geht, gemeinsam einen neuen digitalen Markt zu erschließen.

Neben den rechtlichen Rahmenbedingungen müssen wir auch standardisierte Schnittstellen in Europa vorantreiben sowie Verfahren der Cybersecurity, um den europäischen Datenraum sicher und vertrauenswürdig zu machen. Dazu zählt auch eine souveräne, verlässliche digitale Infrastruktur für Europa, wie sie etwa mit Gaia-X geplant ist.

Die Sicherheit unserer Daten und der Schutz geistigen Eigentums sind in Europa ein hohes Gut. Wenn wir es schaffen, an unseren europäischen Werten festzuhalten, ohne unsere Chancen in der datengetriebenen Wirtschaft zu beschneiden, dann kann KI „made in Europe“ weltweit zum Erfolg werden. Mit einem „Schengenraum für Daten“ hat Europa das Potenzial, als Gewinner aus der nächsten Phase der Digitalisierung hervorzugehen.

Expertenbeitrag erschienen in:

Handelsblatt Journal
September 2020

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