Realitätscheck Human-Centric Automation – ein kritische Betrachtung

Ein Expertenbeitrag von Jochen Steil, TU Braunschweig

Es ist ein Trend: human-centric automation, auch als Kern von Industrie 5.0 bezeichnet (Vogel-Heuser, 2023). Gemeint ist eine Zusammenführung von Mensch und Maschine in der Automatisierung, die auf die Bedürfnisse der Menschen fokussiert. Aber Automatisierung und Menschzentrierung sind ein Widerspruch: Automatisierung soll im Kern eigentlich den Menschen aus dem Prozess verdrängen. Was könnte also mit „human-centric automation“ gemeint sein und warum jetzt? Vier Perspektiven geben verschiedene Antworten auf die erste Frage (Fig.1). Warum jetzt, ist leichter zu beantworten: die rapiden Fortschritte in der Robotik und KI geben der alten Frage, wo der Mensch bei fortschreitender Technisierung bleibt, eine große Dringlichkeit. Kann das Konzept der menschzentrierten Automatisierung eine Antwort sein?

Fig1: Perspektiven auf menschzentrierte Automatisierung

Wandel der Arbeit

Aus einer psychologischen Perspektive ist die Diskussion erklärbar aus dem immerwährenden Prozess der Vernichtung von Arbeitsplätzen durch Automatisierung, der Veränderungen erzwingt und berechtigte Angst vor Arbeitsplatzverlust erzeugt. Und auch wenn neue Arbeit anderswo entsteht und global gesehen nur so Innovation möglich ist, lassen die aktuellen Technologiesprünge in der KI große individuelle Veränderungen und Zumutungen erwarten. Auch z.B. bei Tätigkeiten in Entscheidungsprozessen und im Engineering, die bisher immun gegen Automatisierung waren. Menschzentrierung ist in diesem Kontext kein konstruktives Konzept für technische Entwicklung, sondern mehr ein Ausdruck von Unbehagen und Angst, sowohl um den konkreten Arbeitsplatz, als auch vor einem wahrgenommenen oder tatsächlichen Verlust von Kontrolle über die Produktionsprozesse. Dagegen steht aber demographische Entwicklung, die einen zunehmenden Arbeitskräftemangel bewirkt. So schätzt die OECD für die industrialisierten Länder, dass schon heute Produktivitätsverluste von ca. 3% jährlich durch diesen entstehen. In der Zukunft wird wohl eher die Frage sein, wie die Arbeit überhaupt zu erledigen wäre, wenn nicht mit Maschinen.

Die menschenleere Fabrik

Aus einer technisch-historischen Perspektive baut menschenzentrierte Automatisierung auf die Erfahrung aus den achtziger Jahren mit der sogenannten menschenleeren Fabrik auf, die nie wirklich Realität wurde. Bis heute spielen meist Menschen und Maschinen in der Produktion wichtige Rollen und speziell in KMU ist die Handarbeit sogar noch sehr verbreitet. Warum dann jetzt Industrie 5.0 und die Betonung der menschzentrierten Automatisierung? Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die menschleere Fabrik dank KI doch zunehmend möglich wird, mit allen Vorteilen der klassischen Automatisierung. Vorreiter ist aber China, mit enormen sogenannten „dark factories“ und einer Fokussierung von Robotik-, Forschungs- und KI-Ressourcen auf den Bereich der Produktion. Ein Fokus auf menschenzentrierte Automatisierung erscheint dagegen zumindest teilweise wie das Schönreden eines Rückstandes im technologischen Wettlauf um die Produktion der Zukunft.

Neue Technologien – neue Arbeitsteilung?

In einer technischen Perspektive erlauben neue Robotik- und KI-Technologien eine viel nahtlosere und engere Zusam-menarbeit von Mensch und Maschine. Generative KI ermöglicht es, Sprache in praktisch jedes Interface zu bringen, Virtual Reality löst die räumliche Trennung auf und kann virtuelle Planung und Inbetriebnahme auf neue Ebenen heben. Die gene-rative KI ermöglicht auch, neue kognitive Fähigkeiten, wie Bildinterpretation, ohne große Schwierigkeiten in fast jedes tech-nische Gerät einzubetten. So verschieben sich auch die Erwartungen an Maschinen: sie sollen interaktiver und transparen-ter sein, aber gleichzeitig auch immer mehr Aufgaben übernehmen. Roboter können im gleichen Arbeitsraum wie Men-schen sein, oder sogar mit ihnen kooperieren (Steil & Maier, 2020; Beyerer et al., 2025), Fig.2. Technisch anspruchsvoll ist aber nach wie vor die Integration in größere Produktionssysteme, ganz besonders gilt dies für die Robotik.

Konzeptionell schwierig ist aber auch eine naiv gedachte Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine. Sie setzt auf vermeintliche Stärken des Menschen z.B. in den Bereichen Kreativität, Planung, und Entscheidungsfindung, während die Automatisierung klassisch schwere und ungesunde Arbeiten übernehmen soll. Die aktuellen Entwicklungen der generati-ven KI zeigen dagegen, dass nicht mehr sehr klar ist, wo Menschen tatsächlich Maschinen überlegen sind. Immer wieder werden neue, verblüffende Leistungen durch KI-getriebene Systeme erbracht. So werden bald viele Tätigkeiten etwa in Planung, Engineering und Produktentwicklung, oder bei der Systemüberwachung und semantischen Fehleranalyse auto-matisierbar. Auch ohne eine übermächtige allgemeine künstliche Intelligenz , die es dafür gar nicht braucht, ist es daher notwendig, das Verhältnis von Menschen und intelligenten Maschinen insgesamt neu zu denken - auch in der Automatisie-rung. Schlicht davon auszugehen, dass sogenannte höherwertige Tätigkeiten Menschen vorbehalten und Teil einer neuen menschzentrierten Automatisierung bleiben, ist zu einfach.

Wie wir arbeiten wollen

Die normative Perspektive schließlich fragt danach, wie wir leben und arbeiten wollen. Wohlbefinden, Selbstwirksamkeit und Selbstverwirklichung durch Arbeitstätigkeit sollen im Zentrum auch der Automatisierung stehen (Huchler et al., 2020). Risiken und Chancen der neuen Technologien werden benannt und abgewogen und neue Möglichkeiten z.B. für Teilhabe am Arbeitsplatz ergeben sich (Steil et al., 2023). Das Konzept der menschenzentrierten Automatisierung zahlt direkt auf diese normativ wünschenswerten Verhältnisse ein. Die neuen Technologien lassen eine Humanisierung vieler Arbeitsplätze zunehmend möglich erscheinen, denn die Interaktion mit Automatisierungstechnik kann viel besser, menschengerechter und intuitiver gestaltet werden. Ebenso kann die Arbeitsorganisation flexibler und menschenzentrierter realisiert werden. Diesen möglichen Wandel zu gestalten ist schwierig und ohne gute normative Maßstäbe kaum zu bewältigen. Die zumindest in Europa großflächig angelegten Regulierungen von KI-Methoden und auch die Datenschutzregeln, die vor Überwachung schützen, sind Versuche, für solche wertegetriebenen technischen Entwicklungen entsprechende Leitplanken zu setzen.

Fig2: Roboter und Menschen im gleichen Arbeitsraum

Perspektive humanoide und kollaborative Robotik?

Alle Diskussionen zu Industrie 5.0 würden sofort hinfällig, falls der Traum von einem universellen humanoiden Roboter wahr würde, der allgemeine Aufgaben in der Automatisierung (und in jedem anderen Lebensbereich) ausführen könnte. Und auch wenn einige die Zeit der Humanoiden schon fast angebrochen sehen, gibt es trotz sehr großer Investitionen bisher weder solche Roboter als Produkt, noch entsprechende realistische Anwendungsfälle (Kurth, 2024; Guo 2025). Andererseits werden seit ca. fünfzehn Jahren Cobots, d.h. leichtere, vor Ort zu trainierende kollaborative Roboter, als Werkzeuge und Schlüssel zu einer umfassenderen Automatisierung, die Menschen stärker einbezieht, gehandelt (Beyerer et al. 2025). Sie haben sich aber bisher am Markt als Schlüsseltechnologie nicht großflächig durchgesetzt. Dafür gibt es wohl zwei Hauptgründe: der Cobot als Werkzeug in der digitalisierten Arbeitswelt (Steil & Maier, 2020) erleichtert per se nicht die Integration mit Peripheriegeräten und Produktionssystemen, die schwierig und teuer bleibt und sicher sein muss. Dagegen brauchen aber gerade KMU schlüsselfertige Lösungen, die weder Programmierung, noch Pflege, noch Expertise vor Ort benötigen. Bessere Roboter- und Softwarewerkzeuge allein adressieren deren Bedarf jedenfalls bisher nicht so, wie vielfach erwartet.

Flexibilisierung und menschzentrierte Automatisierung

Wie wird sich die Automatisierung entwickeln? Wahrscheinlich ist, dass zwei Trends parallel wirken. Einerseits werden hoch effiziente „dark factories“ durch KI-getriebene Methoden immer komplexere Produkte herstellen und weiter menschliche Arbeit ersetzen. Dies ist angesichts der demographischen Herausforderungen und auch um nachhaltiger zu produzieren, grundsätzlich sinnvoll. Durchgehende Automatisierung durch Sondermaschinen für Massenprodukte wird flexibler und dank intelligenter Roboter für mehr Produkte möglich. Sie wird auch Planungsprozesse, Entwurf, Überwachung etc. einschließen - Tätigkeiten die heute im Konzept der menschzentrierten Automatisierung teilweise naiv weiterhin Menschen zugeschrieben werden. Es wäre fahrlässig, diese Realität, die auch enormen Wettbewerbsdruck entwickelt, zu ignorieren. Andererseits haben wir grade im KMU Bereich noch sehr viel eher einfache Handarbeit, die z.B.  durch flexible, kleinteiligere Robotiklösungen automatisiert werden könnte. Hier wird es darauf ankommen, dass hohe Anpassung an direkte Kooperation mit Menschen möglich ist - im Sinne der menschzentrierten Automatisierung. Dabei müssen aber die Lehren aus dem bisherigen Verlauf von Digitalisierung und Roboterisierung gezogen werden. Diese zeigen, dass neue Werkzeuge allein den Bedarf nicht so adressieren, wie es eher lösungsorientierte KMU mit harten betriebswirtschaftlichen Zwängen benötigen. Für die Entwicklung, Akzeptanz und Umsetzung von solchen Lösungen sind neue, meist KI-basierte Technologien der Schlüssel, die dann auch gleichzeitig eine Humanisierung der Arbeitsplätze im Sinne von Industrie 5.0 ermöglichen. Diese normativ wünschenswerte, positive Vision steht in Konkurrenz, aber eben auch komplementär zur KI-getriebenen klassische Automatisierung in menschleeren Fabriken. Die große Herausforderung besteht darin, diese Vision mit den Realitäten vor Ort zu vereinbaren.

Über die Autorin

Forschungstätigkeit arbeitet Jochen Steil als CEO der Gauss Robotics GmbH an der Entwicklung KI-basierter Robotiklösungen für KMU. Er ist Mitglied der Arbeitsgruppe „Arbeit/Qualifikation und Mensch-Maschine-Interaktion“ Plattform Lernende Systeme.

Beitrag erschienen in:

atp magazin
Mai 2025

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