KI als Werkzeug für Prozessoptimierung und gegen den Fachkräftemangel

Ein Expertenbeitrag von Dr. Corina Apachiţe, Leiterin der Abteilung für Künstliche Intelligenz innerhalb Continental Automotive Technologies und Mitglied der Plattform Lernende Systeme

Der Einsatz von KI in der Automobilbranche ermöglicht innovative Services und Produkte sowie ressourcenschonendere Mobilitätskonzepte. Gleichzeitig kann KI in der Automobilindustrie auch als humanzentriertes Werkzeug Beschäftigte bei immer komplexeren Prozessen sinnvoll unterstützen und Unternehmen helfen, ambitionierte Nachhaltigkeitsziele umzusetzen sowie dem Arbeitskräftemangel zu begegnen. Corina Apachiţe, Programmleiterin für Künstliche Intelligenz und Daten beim Automobilzulieferer Continental und Mitglied der Plattform Lernende Systeme, diskutiert im Beitrag, wie die Potenziale, die KI für die Mobilitätsbranche verspricht, freigesetzt werden können. Dazu müssen Beschäftigte bei der Entwicklung von KI einbezogen sowie Nachhaltigkeitsziele und Datenschutzbestimmungen von Anfang an berücksichtigt werden.

Dr. Corina Apachiţe leitet die Abteilung für Künstliche Intelligenz innerhalb von Holistic Engineering and Technologies, die Teil von Continental Automotive ist.

Künstliche Intelligenz kann helfen, Verkehrssysteme und Mobilitätskonzepte intelligent miteinander zu vernetzen und sie dadurch sicherer und nachhaltiger zu machen. So können sich Menschen etwa mithilfe selbstfahrender Autos schneller und ressourcenschonender fortbewegen, ohne dabei auf Flexibilität verzichten zu müssen. KI kann zudem eingesetzt werden, um Reisen mit verschiedenen Mobilitätsformen wie Bus, Bahn und Ridesharing gebündelt auf Plattformen in wenigen Buchungsschritten zu planen. Das macht den öffentlichen Personenverkehr attraktiver und entlastet Verkehrssysteme und die Um welt. KI-Systeme in autonomen Fahrzeugen versprechen eine höhere Verkehrssicherheit, indem die Umgebungssituation auf Basis von Sensorsignalen interpretiert werden kann. Auch der Güterverkehr lässt sich im intelligent vernetzten Verkehrsraum nachhaltig gestalten: Durch präzisere und besser koordinierte Lieferketten können Anbieter Kosten sparen, ihre Services verbessern und ihren ökologischen Fußabdruck verkleinern. Während bereits sehr breit über diese und weitere KI-Anwendungen in Produkten und Mobilitäts-Services diskutiert wird, sind die vielversprechenden KI-Potenziale für die Optimierung interner Arbeitsabläufe und nachhaltige Prozesse in der Automobilindustrie im öffentlichen Bewusstsein bislang weniger bekannt.

KI für interne Prozesse: Potenziale für effiziente und humane Arbeitsprozesse

Durch die steigende Komplexität in der Automobilbranche werden aus früheren Einzelprodukten und -systemen zunehmend vernetzte Gesamtsysteme. Zudem erhöht sich der Kosten- und Zeitdruck, da Lösungen, trotz höherer Komplexität, immer schneller ausgeliefert werden müssen. KI kann hier unterstützen, Entwicklungs- und Abstimmungsprozesse technisch, organisatorisch und wirtschaftlich effizienter und sozial nachhaltiger zu gestalten. Einige Unternehmen in der Automobilindustrie setzen daher auf innovative KI-Tools, um Prozesse für Fachkräfte zu verbessern: So können neu entwickelte KI-Werkzeuge wiederkehrende und monotone (aber belastende) Tätigkeiten für Beschäftigte erleichtern oder diese für einzelne Fachkräfte mit hohem Spezialisierungsgrad vereinfachen. Beim Systemzulieferer Continental erproben wir aktuell in einem Pilotprojekt zum Anforderungsmanagement mit KI, wie Beschäftigte bei der Erfüllung dieser hohen Anforderungen unterstützt werden können; das Ziel des KI-Einsatzes lautet dabei „work smarter, not harder“.

Das Anforderungsmanagement steht am Anfang eines Software-/Systementwicklungsprojekts und hat die wettbewerbsfähige Angebotserstellung zum Ziel. Kundenwünsche (= Lastenhefte) zu angefragten Produkten müssen dazu systematisiert werden. Eine Aufgabe der KI in der Softwareentwicklung kann zum Beispiel darin bestehen, die einzelnen Anforderungen (Datenpunkte) im Lastenheft jeweils einer Klasse oder Domäne (Fachabteilung) zuzuordnen. Diese Textklassifikation, die sonst ein langwieriger Prozess ist, lässt sich durch KI immens beschleunigen. Die Fachleute im Anforderungsmanagement-Team können sich nun auf die Aufgabe konzentrieren, die vorgeschlagene Annotation durch KI zu überprüfen. Damit wird eine ansonsten sehr monotone Arbeit automatisiert und verkürzt. Die Diskussionen im Team über die Ergebnisse des Algorithmus sind ein Erkenntnisgewinn, der den späteren Projektverlauf günstig beeinflusst. Denn das tiefere Verständnis, warum bei der Annotation in einer be- stimmten Weise entschieden wurde, ist ein Qualitätsgewinn. Ändern sich Anforderungen in einer neuen Version des Lastenheftes, so erkennt der Algorithmus das. In Zeiten, in denen es immer schwerer wird, die richtigen Talente zu akquirieren, ist KI daher nicht nur ein ressourcen- schonendes Werkzeug, sondern kann auch helfen, den Fachkräftemangel auszugleichen. Damit ist auch klargestellt, dass die Nutzung von KI im Anforderungsmanagement keineswegs darauf abzielt, Fachkräfte zu ersetzen. Das Werkzeug KI soll stattdessen Arbeitsprozesse erleichtern, indem kostbare Zeit eingespart und zugleich die Qualität erhöht wird. Es geht also nicht um die Frage Mensch oder Maschine, sondern um die Kooperation von Mensch und Maschine.

So werden Kapazitäten freigesetzt, damit sich Beschäftigte auf die tatsächlich neuen Anforderungen und sinnstiftenden Tätigkeiten konzentrieren können, wo ihre eigentliche Entwicklungsleistung gefordert ist. Um dabei zu verhindern, dass die dadurch entstehenden, neuen und komplexeren Aufgabenprofile zu einer sukzessiven Überlastung der Beschäftigten führen, ist es für Continental wichtig, im Dialog mit den Beschäftigten eine ausgeglichene und menschenzentrierte Aufgabengestaltung zu finden, die die Beschäftigten zum selbstbestimmten Umgang mit KI befähigt. Die Einbeziehung des Menschen in die Entwicklung und Bewertung der KI ist Teil des humanzentrierten Ansatzes, den wir bei Continental verfolgen. So unterschiedlich die Anwendungsfälle auch sein mögen, diese und weitere im Unternehmen entwickelten KILösungen sind Teil eines Transformationsprozesses: KI hilft dabei, sich verändernde Anforderungen zu bewältigen, und das unter erschwerten Randbedingungen, wie hohem Zeit- und Kostendruck. Dazu müssen die Beschäftigten frühzeitig in die KI-Transformation eingebunden und für die Zusammenarbeit mit KI qualifiziert werden.

Nachhaltigkeit und Verhältnismäßigkeit prüfen, Vertrauen aufbauen, Transfer vorantreiben

Wenn KI in Unternehmen humanzentriert eingesetzt wird, kann KI im Alltag für den entscheidenden Unterschied sorgen. Die KI-Werkzeuge dienen dazu, dass sich Ingenieurinnen und Ingenieure auf das Wesentliche konzentrieren und ihre Arbeitszeit dadurch effektiver nutzen können. Sie entwickeln so nicht „nur“ Vertrauen in die KI, sondern nutzen diese aus Überzeugung. Die entwickelten KI-Modelle können durch Verfeinerung der Fachkräfte weiter überarbeitet werden, wobei das menschliche Feedback die Datenbasis verbessert, dadurch können auch die Expertinnen und Experten wieder neue Anregungen er halten. KI und die dazugehörige Mensch-Maschine-Interaktion fördern so auch die Selbstreflexion über eigene Denkvorgänge: Der Mensch und seine Bedürfnisse sind der Maßstab, KI ist quasi der „Lehrling“, der vom „Profi“ ausgebildet wird. Anders als bei Beschäftigten gehen erworbene Fähigkeiten – etwa, wenn diese das Unternehmen verlassen – bei KI-Systemen nicht mehr verloren. Sie lassen sich vielmehr verstetigen, sodass beliebig viele Fachkräfte unterstützt werden können. Daher ist humanzentrierte Künstliche Intelligenz gerade im industriellen Umfeld von großer Bedeutung, da diese Methoden die Akzeptanz neuer KI-Ansätze verbessern und neue Anwendungsfelder erschließen können. Im besten Fall ergeben sich hier auch Synergien für die nachhaltige Prozessoptimierung.

Neben der Entwicklung menschenzentrierter KI-Anwendungen zählen für uns die Nachhaltigkeit und die Sicherheit der Technologie zu den wesentlichen Voraussetzungen: Nachhaltigkeit ist unser Ziel, Datenschutz sind die Spielregeln – ich bin überzeugt, dass beides nicht in Widerspruch steht und wir an keiner Stelle Kompromisse eingehen müssen. Wie Datenschutzbestimmungen technologisch umgesetzt werden, sollte in interdisziplinären Teams erarbeitet werden; zentral ist dabei etwa die Nachverfolgbarkeit, welche Daten für welche Zwecke genutzt werden und wie wir nachverfolgen können, mit welchen Daten eine KI trainiert wurde.

Egal ob für innovative Mobilitätskonzepte oder für die Optimierung interner Prozesse – bei jeglichen KI-Anwendungen gilt es zudem, den hohen Ressourcenverbrauch der Technologie selbst im Blick zu behalten und ethisch oder sozial unerwünschte Effekte, wie Diskriminierung oder die Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheiten, zu berücksichtigen. Für alle Entwicklungen ist daher wichtig, zu jedem Zeitpunkt die Verhältnismäßigkeit des KI-Einsatzes zu prüfen und mit Blick auf ökonomische, soziale und ökologische Nachhaltigkeitsziele zu hinterfragen, ob wirklich eine ressourcenaufwändige KI-Anwendung nötig ist oder ein einfacher Algorithmus ausreicht. Dazu verfolgen wir einen Nachhaltigkeit-by-Design-Ansatz, so spielt der nachhaltige KI-Einsatz bereits in der Innovationsphase bei der Auswahl der Projekte eine zentrale Rolle. Auch bei der Entwicklung machen wir uns Gedanken, wie viele reelle Daten wir dafür brauchen, welche Daten und Modellrechnungen wiederverwendet werden können und wie viel Energie und Rechenpower dazu nötig ist.

Als Technologieanbieter müssen wir den facettenreichen Aufbau von Vertrauen ermöglichen und den KI-Transfer vorantreiben: An der Entwicklung und Zuverlässigkeit der Systeme arbeiten hunderttausende von Ingenieurinnen und Ingenieuren weltweit, auch bei Continental. Die Evolution der KI muss dabei im Einklang mit einer soliden ethischen und juristischen Regulierung stehen, den Menschen in den Mittelpunkt stellen und zu nachhaltigen Anwendungen und Lösungen beitragen.

Beitrag erschienen in:

Fortschrittsbericht Plattform Lernende Systeme 2022
Dezember 2022

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