Hand in Hand mit Robotern – Lernende Systeme in der Arbeitswelt
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Dieter Spath, Co-Vorsitzender der Plattform Lernende Systeme und acatech Präsident
Bereits heute übernehmen intelligente Softwaresysteme, Maschinen und Roboter viele Aufgaben in Fabriken, lebensfeindlichen Umgebungen oder Büros. In den Produktionshallen der deutschen Industrie arbeiten Menschen Hand in Hand mit Robotern. In Call-Centern oder im virtuellen Kundenservice kommen digitale Sprachassistenten und Chatbots zum Einsatz, die Kundenfragen beantworten und ihre Dienstleistung mit jedem geführten Gespräch verbessern. Jüngstes Beispiel ist Amazons erster Go-Supermarkt in Seattle, in dem Einkaufen ohne Kassen Realität ist. Die Kunden legen die Waren in den Einkaufskorb, zahlreiche Sensoren und Kameras registrieren die Entnahmen aus den Regalen. Beim Verlassen des Ladengeschäfts wird über eine App auf den Handys der Kunden abgerechnet.
Lernende Systeme erledigen selbstständig abstrakt beschriebene Aufgaben auf Basis von Daten, die ihnen als Lerngrundlage dienen, ohne dass jeder Schritt spezifisch programmiert wird. Sie beruhen auf Technologien und Methoden der Künstlichen Intelligenz, bei denen derzeit große Fortschritte hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit erzielt werden. Besonders wichtig ist darunter das maschinelle Lernen, das es den Systemen ermöglicht, ihr Verhalten durch Erfahrung und in Interaktion mit ihrer Umwelt und ihren Nutzern zu optimieren. Ein Durchbruch wurde in den letzten Jahren mit dem Deep Learning erreicht, das auf einer Weiterentwicklung künstlicher neuronaler Netzte fußt. Neuronale Netze umfassen mehrere Schichten bestehend aus einer Vielzahl künstlicher Neuronen, die miteinander verbunden sind und auf Eingaben von Neuronen aus den vorherigen Schichten reagieren. In der ersten Schicht wird etwa ein Muster erkannt, auf der zweiten Schicht ein Muster von Mustern und so weiter. Liefert das Netz ein falsches Ergebnis, passen die Entwickler die Verbindungsstärke zwischen den Neuronen an. Anders beim Deep Learning. Hier werden die Abstraktionsschichten nicht von Menschen vorgegeben, sondern sie entstehen aus den Daten selbst heraus. Das System generiert sein Vorhersagemodell selbst.
Fehlendes Fingerspitzengefühl und Alltagsintelligenz setzen Grenzen
Lernende Systeme werden alle Bereiche des beruflichen Lebens durchdringen, von der Produktion über die Sachbearbeitung bis hin zu sozialen Berufen. Sie entlasten die Menschen von körperlich schwerer Arbeit, eintönigen Routineaufgaben und gefährlichen Tätigkeiten, etwa in Katastrophengebieten. Auf diese Weise ermöglichen sie ihnen, eigenverantwortlich zu arbeiten und eine höhere Zeitsouveränität. Die Beschäftigten haben wieder Zeit, sich auf das Wesentliche ihres Berufes zu konzentrieren. Pflegekräfte, die beim Heben der Patienten von Maschinen unterstützt werden, sparen Zeit, in der sie sich intensiver um die kranken oder alten Menschen kümmern können. Fabrikmitarbeiter werden in einem sich selbst steuerndem Produktionssystem zu Entscheidern, die mit Erfahrungswissen die Abläufe überwachen und in unvorhersehbaren Problemsituationen eingreifen. Im Kundenservice werden Mitarbeiter von Standardanfragen befreit. Sie übernehmen die schwierigen Kundenanliegen, die menschliches Fingerspitzengefühl erfordern. Denn auf Logik basierende Algorithmen treten schnell in ethische Fettnäpfchen. Ironie zu erkennen oder Antworten nach moralischen Gesichtspunkten abzuwägen, bleibt den Menschen vorbehalten.
Die Urteilsfähigkeit der Lernenden Systeme ist Thema vieler Debatten um Künstliche Intelligenz. Intelligente Softwaresysteme können den Moderatoren in sozialen Netzwerken helfen, Hasskommentare, Gewaltvideos oder anderen illegalen Content zu finden und zu löschen. Eine Tätigkeit, die 2017 durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz an Bedeutung gewonnen hat, doch für Menschen psychisch sehr belastend sein kann. Die Software zum Aufspüren illegaler Inhalte stößt allerdings beispielsweise bei satirischen Darbietungen schnell an ihre Grenzen und löscht fälschlicherweise harmlose Beiträge. Menschliche Überwachung der Lernenden Systeme ist notwendig – insbesondere, da der Weg zur Entscheidungsfindung in den künstlichen neuronalen Netzen kaum nachvollziehbar ist.
Lernenden Systemen fehlen eine Art Alltagsintelligenz sowie sozial-emotionale Fähigkeiten. Sie erbringen zwar teilweise Leistungen, die die Kompetenzen von Menschen weit übertreffen. Aber diese Leistung ist eben beschränkt auf eine bestimmte Tätigkeit. Deshalb werden sie auf lange Sicht den Menschen in der Arbeitswelt nicht voll ersetzen können, sondern übernehmen einzelne Aufgaben. Voraussichtlich können in nächster Zeit nur wenige Jobs komplett automatisiert werden. Laut einer Studie von McKinsey aus dem vergangenen Jahr könne bei 60 Prozent aller Berufe etwa ein Drittel aller Tätigkeiten automatisiert werden.
KI gestalten: Qualifizierung und gesellschaftlicher Dialog
Unbestritten werden durch den Einsatz Lernender Systeme Arbeitsplätze wegfallen. Doch es werden auch neue Jobs geschaffen, in den Fabriken genauso wie in Start-Ups, die auf innovativen zum Beispiel datengetriebenen Geschäftsmodellen beruhen. In der Gesamtbeschäftigung wird es kaum Veränderungen geben. Die Kernanforderungen an die Beschäftigten werden sich wandeln. Zukünftig rücken kognitive, soziale und persönliche Kompetenzen, wie etwa die Fähigkeit zum Selbstlernen, grundlegende IT-Kenntnisse, Systemdenken und die Gestaltung der Zusammenarbeit mit autonomen Systemen ins Zentrum. Weiterbildung und Qualifizierung kommt bei der Einführung als auch Akzeptanz Lernender Systeme eine Schlüsselrolle zu. Auch Unternehmen benötigen neue Kompetenzen. Eine Studie der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften zur Kompetenzentwicklung für Industrie 4.0 hat gezeigt, dass rund 60 Prozent der Unternehmen großen Bedarf an Fähigkeiten zur Analyse und Auswertung von Daten sehen. 49,4 der großen und immerhin 24,8 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen erachten auch Methoden und Technologien der Künstlichen Intelligenz als künftig wichtige Kompetenz.
Unsere sozialen Sicherungssysteme werden nur Bestand haben, wenn wir bei einer sinkenden Bevölkerungs- und Erwerbstätigenzahl es schaffen, die Erträge unserer Arbeit zu erhöhen. Die für unsere Gesellschaft und ihren Wohlstand so wichtigen Produktivitätsfortschritte lassen sich ausschließlich durch eine weitergehende Automatisierung erreichen. Fakt ist aber auch: in unserer alternden Gesellschaft können wir auf niemanden verzichten, wenn wir die demografische Lücke schließen wollen. Lernende Systeme werden die Menschen unterstützen, ersetzen können sie humanes Erfahrungswissen und Urteilsfähigkeit nicht. Gerade ihre fehlende Menschlichkeit setzt der Künstlichen Intelligenz Grenzen. Sie wirft rechtliche, ethische und sicherheitsbezogene Fragen auf. Wann wir unseren Nutzen aus Lernenden Systemen ziehen, welche Aufgaben unserer Arbeitswelt wir auf sie übertragen und in welchen Fällen wir von ihrem Einsatz absehen, können wir selbst entscheiden. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat deshalb die Plattform Lernende Systeme etabliert, die Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft zusammen bringt. Sie erarbeiten Szenarien und Empfehlungen für den verantwortlichen Einsatz Lernender Systeme. Denn: Wenn wir Künstliche Intelligenz im Sinne der Menschen gestalten wollen, brauchen wir einen breiten gesellschaftlichen Dialog über ihre Chancen und Risiken.
Gastbeitrag erschienen in:
Technik in Bayern
Regionalmagazin für VDI und VDE
Mai 2018